Menschenrechte
Aus Sorgfalt und Liebe zum eigenen Leben
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- Von Susanne Louise Ganzoni
Die anhaltende Flüchtlingskrise macht betroffen, und es stellt sich die Frage, wie wir die Spannung zwischen unserer Betroffenheit und den oft sehr begrenzten Möglichkeiten der Hilfeleistung ertragen. Die Theologin Susanne Louise Ganzoni sucht Antworten.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Denken, das mich davor bewahrt, nicht vom Anspruch meiner eigenen und fremder Erwartungen aufgesogen zu werden, basiert auf dem evangelischen Grundgedanken, dass ich ein freier Mensch bin. Diese Freiheit ist heilig und das Urteil darüber, ob ich genug oder zu wenig für andere leiste, untersteht allein der Gerichtsbarkeit Gottes. Wichtig ist ebenfalls, dass ich bei dem, was ich tue, Frieden in und mit mir finden kann, was für mich gleichbedeutend ist mit dem Frieden, den ich in und mit Gott finden kann. Die Kriterien für die Richtigkeit meiner Handlungs-, Denk- und Lebensweise sind also die Bewahrung meiner Freiheit und die Bewahrung meines inneren Friedens.
Wie sehr ich mich als Mensch durch andere berühren lasse, hängt von meiner jeweiligen geistigen und seelischen Verfassung ab und ist auch abhängig von meinem Wesen und meiner biographischen Geschichte. Gegenwärtig erlebe ich in meinem Freundeskreis viele Formen alters- und krankheitsbedingter Ängste, die mir alle vertraut sind. Die nahe Möglichkeit des Sterbens und das beklemmende Bewusstsein der Vergänglichkeit rufen dunkle Gedanken, Schuldgefühle und Zweifel hervor. Die Verantwortung dem Leben gegenüber nimmt zeitweilig die Züge einer verzweifelten Überforderung an. Dabei werde ich direkt oder indirekt aufgefordert, mich um eine Veränderung zu kümmern, einen Ausstieg aus Bedrängnis, Leid und Hoffnungslosigkeit zu finden oder um die Sinnhaftigkeit des Leidens zu ringen.
Das biblische Liebesgebot, das Gebot der Selbst- und Nächstenliebe, besonders der Feindesliebe, kann mich in manchen Situationen sehr bald an meine physischen und mentalen Grenzen führen. Es ist dann entscheidend, ob ich mich der Liebe Gottes oder einer gesellschaftlichen Moral verpflichtet fühle. Wenn ich der Liebe Gottes vertraue, darf ich davon ausgehen, dass mir die Kraft zur Hilfe zukommen wird. Wenn ich mich von der gesellschaftlichen Moral gedrängt fühle, dann bin ich ständig in Gefahr, mich völlig zu erschöpfen. Denn die gesellschaftliche Moral, die sich das Gebot der Nächstenliebe aneignet ohne Rücksicht darauf, woher der helfende Mensch seine Kraft nimmt, verbindet sich genau mit jenen gewalttätigen Mächten, die den Menschen verächtlich ewig schuldig sprechen als defizitäres Wesen, das auch bei grösster Anstrengung seine Schuldhaftigkeit niemals loswerden kann.
Ja, ich bin dem Leben gegenüber verantwortlich, aber ich lehne dieses unterdrückerische Machtgebaren von Seiten all derer ab, die sich das Recht herausnehmen, den Einzelnen oder die Gesellschaft auf eine kollektive Schuld oder menschliches Versagen einzuklagen, so als wäre es an ihnen, den Grad der menschlichen Verderbtheit und den Zustand der Welt bestimmen und ermessen zu können. Während meines Theologiestudiums habe ich ständig darauf hingewiesen, dass die Theologie sich von ihrer völlig veralteten Anthropologie verabschieden müsse und dem Menschen unbedingt wieder eine göttliche Würde zuerkennen muss, wenn sie ihm einen neuen Zugang zur Erlösung schaffen wolle.
«Du sollst deine Nächste und deinen Nächsten lieben wie dich selbst» lautet die einfache und doch so anspruchsvolle Formel aus dem Munde Jesu. Gerade höchst aktuell breitet sich vor unseren Türen die Corona-Pandemie aus und verunsichert unsere Zivilgesellschaften durch ein beispielloses Ausmass globaler Betroffenheit. Die zwischenmenschliche Liebe wird als Anspruch der Solidarität auf internationaler Ebene wie kaum je herausgefordert und wird existenziell massgebend für die Verhinderung von Zusammenbrüchen im Gesundheits- und Wirtschaftssystem vieler Länder. Die derzeitige Abschottung der einzelnen Länder gegeneinander im Zuge der Corona-Massnahmen lässt uns empfindlich spüren, wie sehr wir im Zeitalter der Globalisierung durch die Wirtschaftskanäle voneinander abhängig sind. Gleichzeitig erkennen wir, wie wichtig für das gemeinsame Überleben der Abbau von Feindbildern ist. Dadurch, dass Jesus das Liebesgebot auf die Feinde ausweitet, stellt er seine Schülerinnen und Schüler in eine Aufgabe, die weit über ihre natürlichen Neigungen hinausgeht. «Begegnet denen, die euch Feindschaft entgegenbringen mit Liebe und betet für die, die euch verfolgen.» Ohne den Gottesbezug und ganz besonders ohne die Vorstellung, dass die Kraft Gottes, nach evangelischem Verständnis konkret der Geist Jesu, in uns wohnt, sind diese Gebote nicht erfüllbar. Sich für die Seite Gottes zu entscheiden, bedeutet die Kraft der Liebe anzuerkennen. Es bedeutet weiter eine Einübung in ein Vertrauen, dass dort, wo meine Kraft nicht hinreicht, Gottes Kraft durch mein Bitten alles vermag.
So viel Hoffnung, wie wir selbst für unser Leben aufbringen, so viel Hoffnung können wir vermitteln – nicht mehr und nicht weniger. Woran ich als helfender Mensch glaube, wovon ich ergriffen bin, das wird unmittelbar einfliessen in meine Hilfe und Zuwendung. Ob ich jemanden aus einer bedrohlichen Lage befreie, ob ich ihn speise oder beherberge, ob ich ihn mit materiellen Gütern versorge, ist immer begleitet von meiner Lebenseinstellung, meiner Sicht der Existenz. Mein Glaube an ein ewiges, durch Christus eröffnetes Leben wird jedes Gespräch mit einem todranken Menschen entscheidend prägen. Schon auf der Ebene des Gesprächs werden entscheidende Weichen gestellt in Bezug auf die Möglichkeit der Veränderung einer Notlage. Glaube ich selbst an die Möglichkeit einer Verbesserung oder muss ich dem allgemeinen Pessimismus das Feld räumen? Habe ich auf Grund meiner Erfahrung Zugang zu einer Kraft, die Menschen innerlich und äusserlich zu befreien vermag aus einer nach menschlicher Sicht hoffnungslosen Lage? Vertraue ich einer Weisheit, die eben nicht von dieser Welt ist und andere Wege kennt als die Institutionen und die Gesellschaft?
Jesus wendet sich einzelnen Menschen zu, die sich ihm nähern, manche verzweifelt direkt, andere scheu und fast unbemerkt. Er macht keine Massenheilungen. Er lässt nicht einfach so Gefängnistore und Gräber öffnen. Aus Gefängnissen konkret befreit werden aber die Apostel Petrus (Apg. 5,19; 12,7), Paulus und Silas (Apg. 16,26) und Lazarus ist schon vier Tage tot, als er von Jesus auferweckt wird (Joh. 11,43). Jesus heilt Menschen, denen er direkt gegenübersteht oder die ihn selbst berühren. Es wird von keiner einzigen Heilung berichtet, die ohne einen direkten Kontakt mit ihm oder ohne eine Vermittlung (wie zum Beispiel im Fall des Hauptmanns, dem das Wort Jesu für die Heilung seines Sklaven reicht, Lk. 7,1-10) zustande gekommen wäre.
Jesus ändert auch nicht das Staatssystem, klagt keine juristischen Mängel ein und belehrt nicht das Synhedrium. Weder auf politisch-militärischer noch sozial-orthodoxer Ebene erhebt er den Anspruch, die Regeln zu ändern. Dafür erhebt er den Anspruch, den Menschen ganz von innen her zu ändern und damit allerdings den Anspruch, die ganze Welt zu ändern. Systeme, Staatsformen und Diktaturen spielen auf diesem Hintergrund gar keine Rolle mehr, weil die Macht in anderen Händen ist, in den Händen dessen, der die Liebe ist. Jesus hat die Bedürftigen zu seinen Geschwistern erklärt. «Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan» (Mt. 25,40). Das sagt Jesus über diejenigen, die bei seiner Schilderung eines himmlischen Gerichts zur Rechten des himmlischen Richters aufgestellt sind und die barmherzig an ihren Nächsten gehandelt haben. Zu ihnen sagt er: «Kommt heran, ihr Gesegneten Gottes, Vater und Mutter für mich; ihr werdet in der Welt Gottes leben, die von Anfang der Welt an für euch geschaffen wurde.» (Mt. 25,34).
Danach wendet sich der himmlische Richter an diejenigen zu seiner Linken, die offensichtlich gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen ihrer Nächsten waren. Zu ihnen sagt «die königliche Person»: «Geht fort von mir, ihr seid fern von Gott; geht in das endlose Feuer, das von Gott für den Teufel und die, die ihm dienen, bestimmt ist. Ich war hungrig, und ihr gabt mir nicht zu essen, ich war durstig, ihr gabt mir kein Wasser. Ich war fremd, und ihr nahmt mich nicht auf, ich war nackt, und ihr habt mich nicht gekleidet, ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert.» (Mt. 25, 41-43).
Das äusserst harte Urteil, das Jesus hier über die Menschen zu seiner Linken ausspricht, steht im Widerspruch zu jeglicher Vorstellung eines milden Gerichts. Hier geht es um Menschen, die an der Not ihrer Mitmenschen vorübergingen. Durch ihre Missachtung der Barmherzigkeit bewegen sie sich nicht etwa auf neutralem Territorium, sondern dienen, ob sie nun wollen oder nicht, einer der Liebe feindlich gesinnten Macht. Wenn ich mich aber auf Jesus berufe und mit ihm antworte auf die Frage nach der angemessenen Hilfe Bedürftigen gegenüber, dann bin ich auch verpflichtet, an die Kraft Jesu zu glauben. Ich kann nicht mit Jesus argumentieren und dabei eine Moral unterstützen, die sich keinen Deut um die Verantwortung Gott gegenüber schert. Denn Jesus stellt das Gebot der Selbst- und Nächstenliebe auf dieselbe Stufe wie das Gebot der Gottesliebe, was eine absolut revolutionäre Neuerung bedeutet in dieser Interpretation und Betonung (Mt. 22, 36-40)!
Ich werde durch Jesus befähigt, das Leiden in Gott zu bergen. Dort, wo ich das Leiden bekämpfen will, ohne es in Gott und mit Gott bergen zu wollen, richte ich das Leiden bewusst oder unbewusst als Vorwurf gegen mich und andere und gleichzeitig gegen Gott. So ist die Klage über das Leid in der Menschheitsgeschichte immer wieder zur offenen oder verdeckten Anklage Gottes geworden. Und dort, wo das erfahrene Leid nicht mit Gott versöhnt werden konnte, ist es durch die Anklage noch verstärkt worden. Die Wut des einzelnen Menschen im Ohnmachtsgefühl gegenüber all der real existierenden Not wird durch diese metaphysisch wirkende Anklage angefacht und gesteigert.
Der moderne Mensch kann der Unterstellung der Kollektivschuld nirgends mehr entgehen. Die Anklage im Verbund mit den Medien, die in alle Winkel der Welt hineinleuchten, kann auf breiter Front vorrücken: Der Holocaust, der neue Todesmarsch der jüngsten Flüchtlingsströme, Kriegsopfer, Elendslager, Klimaerwärmung, Ausbeutung der Natur, Verachtung der Tiere, Langzeitstrahlung des Atommülls – es gibt kein Ausweichen mehr. Überall schlägt uns die Überforderung ins Gesicht, überall sind wir in die Verantwortung getrieben, von allen Seiten wird uns unsere Anfälligkeit entgegengeschleudert.
Dieser Ansturm auf unser Gewissen, der durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wird, ist eine noch nie dagewesene Form der existenziellen Infragestellung unserer Autonomie und Mündigkeit. Gerichtsszenarien drängen sich auf. Haben wir es mit Naturgewalten zu tun, die zurückschlagen, mit feindlichen Schicksalsmächten oder mit entfesseltem Gotteszorn? In der Todesangst sind wir am ungeschütztesten. Der Aufschrei, der den Menschen hier in eine nicht zu bewältigende Aufgabe stellt – nämlich die Welt zu retten – treibt ihn direkt in die Arme der falschen Propheten. Diese selbst ernannten Retterfiguren bedienen sich ethischer Begriffe, predigen den Untergang und malen ein schreckliches Szenario aus, in dem die Menschheit gänzlich von dunklen unbarmherzigen Mächten umzingelt ist. Der einzelne Mensch droht dabei zusätzlich in der Anonymität unterzugehen. Er kann nicht mehr glauben, dass er gemeint ist, dass er etwas bewerkstelligen kann angesichts der Überbedrohung und schon gar nicht mehr kann er glauben, dass er erlöst worden ist aus aller Bedrängnis, aus aller Not und vom Tod.
Die entscheidende Ermutigung dafür, dass wir es trotz aller düsteren Prophezeiungen wagen dürfen, in eine helle Zukunft zu blicken, geht für mich aus der Verwandlungskraft der Auferstehung Jesu hervor. Die dadurch frei gewordene Versöhnungs- und Vergebungsdynamik vermag alle unsere Bestrebungen zu heiligen und ans Ziel kommen zu lassen – allerdings unter der Voraussetzung, dass wir erkennen und annehmen, wie sehr wir auf Gottes Mithilfe und Liebe angewiesen sind. So ist die Auseinandersetzung mit dem Leiden für mich also eine höchst persönliche Angelegenheit, die nicht auf der Ebene der gesellschaftlichen Forderungen abgehandelt werden kann. Es wird immer darauf ankommen, wie ich mit der Frustration darüber umgehe, dass mein Beitrag zum Gemeinwohl im Vergleich zu den globalen Notständen als unzureichend angesehen werden muss. Richte ich meine Erfahrung der Ohnmacht gegen mich selbst, gegen andere oder gegen Gott oder verwandle ich meine Erfahrung der Ohnmacht in das Vertrauen auf die Kraft der Liebe, die in mir wohnt und ihren Weg finden wird an allen Orten, an denen ich Menschen wirklich begegne? Eine direkte Erkenntnis aus meiner letzten Krise war, dass ich dringend mehr Zeit brauchte für das persönliche Gebet und für die Fürbitte. Ich konnte meine Lebensumstände und die Menschen, die darin meine Nächsten sind, nicht mehr von der Tiefe her wahrnehmen. Mir fehlte der Raum für die Verankerung der Dankbarkeit und das Bedenken meines Lebens.
Die Sorgfalt und Liebe für mein eigenes Leben wurde neu entfacht und die Pflege eines neu gewonnenen Raumes, in dem meine innere und äussere Freiheit, mein innerer und äusserer Friede heilen und gedeihen dürfen, sind zu einer Grundvoraussetzung dafür geworden, mich durch andere Menschen berühren lassen zu können.