Biodiversität

Für fünf Minuten ein Schimpanse sein

Die Verhaltensforscherin Jane Goodall feiert ihren 80. Geburtstag.  Sie hat mit ihrer jahrzehntelangen Forschung entscheidend dazu beigetragen, auch das Bild des Menschen in der Natur zu verändern. „Unser Platz ist im Königreich der Tiere – und nicht ausserhalb“, sagt sie im Interview. Es wurde anlässlich ihres 75. Geburtstages geführt und hat nichts an seiner Aktualität eingebüsst.


Frau Goodall, als Kind waren Sie eine begeisterte Leserin der Tarzan-Romane. Sie träumten davon, selbst im Urwald zu leben und dem Urwaldhelden eine bessere Gefährtin zu sein als die in der Tarzan-Geschichte reichlich hilflose Jane. Haben Sie diesen Traum verwirklichen können?

Im übertragenen Sinne: Ja. Ich wollte tatsächlich schon als junges Mädchen im Wald leben und den Tieren nahe sein. Und ich wollte darüber Bücher schreiben. Dieses Ziel habe ich erreicht, übrigens ohne einen Tarzan als Beschützer an meiner Seite.

Sie beschreiben den Nationalpark Gombe in Tansania, wo sie lange als Forscherin gelebt haben, als Paradies. Dort leben keine Menschen. Braucht es uns im Paradies nicht?

Es stimmt nicht, dass der Mensch dort nicht präsent wäre. Im Gegenteil: Natürlich nimmt er Einfluss, sei es als Jäger und Sammler, aber auch als Wilderer oder als Beschützer der Natur. Aber darum geht es nicht, wenn ich vom Paradies Gombe spreche. Als paradiesisch empfinde ich das Leben in der Wildnis, das sich weitgehend im Einklang mit den Gesetzen der Natur abspielt. Das Paradies findet sich aber auch anderswo, etwa auf den Wiesen des Gutes Aiderbichl bei Salzburg, wo zuvor in engen Ställen gehaltenen Nutztieren ein Leben in Freiheit ermöglicht wird. Ich komme gerade von dort. Es ist tatsächlich wie im Paradies für diese Tiere. Ein Paradies, von Menschenhand geschaffen.

Frau Goodall, Sie haben Ihr Leben den Schimpansen gewidmet, als Forscherin und seit zwei Jahrzehnten als unermüdliche Fürsprecherin für deren Schutz. Warum?

Das möchte ich nicht auf die Schimpansen beschränkt sehen. Wenn schon, dann habe ich mein Leben allen Tieren gewidmet. Und wenn ich vom Königreich der Tiere spreche, dann gehört für mich der Mensch dazu. Wenn Sie nach meiner Motivation fragen: Mich haben, seit ich mich erinnern kann, Tiere fasziniert. Ich nahm schon als Kleinkind Regenwürmer mit ins Bett. Diese Begeisterung für die Tierwelt hält bis heute an.

Sie haben Anfang der 1960er-Jahre als eine der ersten Forscherinnen beobachtet, dass Schimpansen in der Lage sind, Werkzeuge wie einen von ihnen selbst bearbeiteten Stecken einzusetzen, um in einer Baumhöhle herumzustochern. Ihr damaliger Lehrer, der Anthropologe Louise Leakey, meinte nach dieser bahnbrechenden Entdeckung, jetzt müssten entweder Werkzeuge oder Menschen als Werkzeugmacher neu verstanden werden, oder wir müssten akzeptieren, dass Schimpansen Menschen sind. Was sagen Sie nach 40 Jahren Forschungsarbeit am Schimpansen dazu?

Viel zu lange haben wir Menschen uns als Wesen betrachtet, die den Tieren übergeordnet sind. Heute wissen wir es, nicht zuletzt dank den Ergebnissen der Verhaltens-Forschung an Menschenaffen, besser. Wir haben ein anderes Verständnis von uns selbst. Wir sind nicht mehr die übergeordneten Werkzeugmacher, als die wir uns einst fühlten. Der Mensch ist der vierte grosse Menschenaffe, sein Platz ist also im Königreich der Tiere und nicht ausserhalb.

Sie haben einmal gesagt, wenn Sie einen Wunsch frei hätten, dann wären Sie am liebsten für ein paar Minuten ein Schimpanse. Weshalb dieser Wunsch?

Ich habe diese Tiere über Jahrzehnte beobachtet. Aber wie es wirklich ist, ein Schimpanse zu sein, davon habe ich auch heute noch höchstens eine Vorstellung.

Und wie sieht diese aus?

Da kann ich nur meine Beobachtungen und Forschungen beschreiben. Schimpansen sind sehr neugierig, sie sind leidenschaftliche Esser, sie sind verspielt und helfen einander, etwa bei der Körperpflege. Die Männchen lieben es, ihre Macht zu zeigen. Aber eben: wie es wirklich ist, Schimpanse zu sein, das können wir mit unseren Mitteln letztlich nur erahnen, so wie ich nicht wissen kann, was wirklich in Ihnen vorgeht.

Was unterscheidet Schimpansen und Menschen?

Kein Tier ist uns genetisch so nahe wie der Schimpanse. Uns unterscheiden gerade mal 1,6 Prozent unserer Gene. Das macht uns im Reich der Tiere zu engen Verwandten. Schimpansen und auch Gorillas sind uns Menschen genetisch näher als den Orang Utans, der vierten Gattung unter den grossen Menschenaffen. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse lässt sich durch die Sprache und deren Gebrauch definieren – letztlich der Ausdruck unseres Intellektes. Kein anderes Lebewesen ist zu ähnlichem fähig. Ich kann zehn Menschen-Gruppen bilden und diesen dieselbe Aufgabe geben. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden zehn verschiedene Lösungswege dabei herauskommen.

Aber Schimpansen können sich doch auch ausdrücken?

Ja sicher. Sie tun dies vor allem mit Gesten. Ein Schimpanse kann damit etwa sagen, er wünsche, dass ein Gefährte einen anderen um einen Baum jagt. Aber ein Sprachgebrauch in unserem komplexen Sinne ist das nicht. Aber sie haben das Potenzial zur Sprache, auch wenn sie es nicht entwickelt haben.


Wie begegnen Sie Schimpansen in der Wildnis?


Von Begegnung im eigentlichen Sinne möchte ich nicht sprechen. Ich treffe diese Tiere nicht, ich beobachte sie und vermeide jeden Einfluss. Das ist ein grosser Unterschied. Grundsätzlich meiden frei lebende Schimpansen den Menschen, und zwar schlicht deshalb, weil sie nur schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht haben. Es braucht etwa ein Jahr, bis diese Barriere überwunden ist, bis die Tiere Vertrauen gefasst haben und einen akzeptieren. Das ist der Schlüssel: Vertrauen und Akzeptanz. Dann kann die Forschungsarbeit erst beginnen.


Sie haben Ihren Forschungsobjekten als eine der ersten Wissenschaftlerinnen Namen gegeben und sie nicht einfach nummeriert. Das klingt nicht nach grosser Distanz.


Das hat mit Distanz oder Nähe nichts zu tun. Ich habe schon als Kind den Tieren Namen gegeben, sei es die Hauskatze oder ein Tier, das ich beobachtete. Vielleicht spürte ich schon damals instinktiv, was ich heute auch als Wissenschaftlerin sage: Jedes Tier hat eine eigene Persönlichkeit. Die kann sogar sehr ausgeprägt sein, etwa bei Schweinen.


Sie sind nur noch sehr selten in Gombe. Erkennen die Schimpansen Sie noch?


Jene Schimpansen, die ich dort seit den frühen 1960er-Jahren beobachtet hatte, sind heute alle tot. Die letzte starb 2003. Aber sie haben mich noch bis ins hohe Alter erkannt und, auf ihre Art, begrüsst. Das konnte etwa heissen, dass sich ein Tier für eine Weile in meine Nähe gesetzt hat. Heute heissen mich deren Nachkommen auf ähnliche Weise willkommen. Das gibt mir tatsächlich auch das Gefühl, nach Hause zu kommen. In Gombe komme ich zur Ruhe. Es ist mein Paradies.


Sie haben dieses Paradies vor bald 25 Jahren verlassen, um sich für Schutz und Erhalt der Schimpansen, mehr und mehr aber auch der Umwelt und Natur als Ganzes zu engagieren. Warum sind Sie nicht geblieben?


Einfach deshalb, weil dieses und viele andere Paradies akut bedroht sind. Wir sind dabei, unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Das wollte und konnte ich nicht länger hinnehmen.


Der Titel Ihrer Autobiographie lautet „Grund zur Hoffnung“. Was macht Sie hoffnungsvoll?


Es sind vier Gründe. Der erste ist das grossartige Engagement junger Menschen in dem von mir mit-initiierten Kinderbildungsprojekt „Roots and Shoots“ (dt. Wurzeln und Schösslinge). Wir haben inzwischen in 111 Ländern über 10`000 Gruppen, die sich alle engagieren für eine gute Sache. Und ich glaube an die Kraft des menschlichen Gehirns. Es ist so ausgelegt, dass es gerade in Zeiten der grössten Bedrohungen zu Höchstleistungen fähig ist. Und je früher wir uns des Ernstes der Lage bewusst werden, desto eher werden unsere Gehirne sich anstrengen, nach Lösungen zu suchen.  An dritter Stelle kommt die von uns oft unterschätzte, tatsächlich schier unglaubliche Widerstandskraft der Natur. Wenn von einer Vogelpopulation nur noch ein einziges Weibchen und eine Handvoll Männchen existieren, kann diese Gattung sich erholen. Und schliesslich gibt es den menschlichen Geist, dessen Fähigkeit, andere zu begeistern und zu motivieren, Menschen wie Nelson Mandela etwa verkörpern diese grossen geistigen Fähigkeiten. Sie machen unser Menschsein aus.


Sind Sie ein spiritueller Mensch?


Ja. Sehr sogar. Ich bin nicht religiös im Sinne einer bestimmten Glaubensrichtung, auch wenn ich in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen bin. Mich hat die Erfahrung im Wald von Gonde geprägt. Dort habe ich schon in den ersten Tagen etwas gespürt, das ich bis heute nicht richtig in Worte fassen kann. Es war vielleicht das, was die verschiedenen Religionsgemeinschaften dieser Welt mit Gott, Jahwe, Allah oder dem Schöpfer zu beschreiben suchen.


Sind Schimpansen spirituell?


Sie haben sich in Gonde gerne an einem Wasserfall aufgehalten, der auch von Schamanen aufgesucht wurde, die dort beteten.  Aber dass die Schimpansen dabei ähnlich empfinden oder denken wie die Menschen, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht faszinierte sie das Naturphänomen des rauschenden Wassers. Das könnte man als eine Art Vorstufe zur Spiritualität verstehen.



Zur Person

Jane Goodall, geboren 1934, begann als Laie im Juli 1960 im Gebiet des heutigen Nationalparks Gombe in Tanzania, Schimpansen zu beobachten. Zuvor hatte sie als Sekretärin des Anthropologe Louis Leakey, damals Direktor des kenianischen Nationalmuseums, gearbeitet. Leakey motivierte Goodall zu der Forschungsarbeit. Den Universitäts-Abschluss sollte sie erst fünf Jahre später ablegen. Da hatten die Ergebnisse ihrer Studien schon eine wissenschaftliche Revolution ausgelöst. Goodall entdeckte als Erste, dass Schimpansen Fleisch fressen, Werkzeuge herstellen und benutzen, eine differenzierte Sprache haben und sogar Kriege führen. Althergebrachte wissenschaftliche Theorien, wonach Charakteristika wie Vernunft und Gefühle angeblich nur dem Menschen vorbehalten sind, stellte Goodall damit auf den Kopf. 1977 gründete die Verhaltensforscherin das Jane Goodall Institute for Wildlife Research, Education and Conservation, das inzwischen weltweit Büros unterhält, seit 2004 auch in der Schweiz.  Aufgabe ist es - neben der weiteren bis heute andauernden Erforschung der Schimpansen in der längsten Freilandstudie weltweit- sich für deren Schutz einzusetzen. Goodall ist mit Ehrendoktortiteln und anderen Auszeichnungen geradezu überhäuft worden. Seit 2002 ist sie Friedensbotschafterin der Uno, seit 2003 „Dame of the British Empire“.
www.janegoodall.ch

Buchhinweis:
Jane Goodall. Grund zur Hoffnung. Autobiographie. Erhältlich als Taschenbuch im Verlag Riemann.

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