Alle Kinder sind gleich

Kinder aus verscheidenen Ländern in einer Klasse muss nicht problembehaftet sein. Das zeigt sich am Primarschulhaus Mühletobel in Rorschach, einem Schmelztiegel der Nationen. Das Integrationsrezept: Alle Kinder sind gleich.

Fünf Mädchen, fünf Nationen, eine Freundschaft. Bild: Urs Fitze

 

Der anonyme, am Computer getippte Brief schmerzte René Stillhard. Er sei ungerecht, hiess es da, weil er einen Klassenkameraden mit besseren Noten bevorzuge. Nicht die Kritik, sondern die Anonymität der Kritiker machte ihn betroffen, lebt er doch seinen Schulkindern stets vor, kritisch, aber auch selbstkritisch zu sein, und vor allem: Konflikte offen auszutragen mit dem Ziel, in Frieden auseinanderzugehen. Stillhard ist seit 18 Jahren Lehrer am Primarschulhaus Mühletobel, einem sachlichen, von Licht durchfluteten Betonbau aus dem Jahr 1970, der in seiner Schlichtheit noch immer viel moderner wirkt als die vielen Wohnblöcke, die seither um ihn herum gebaut worden sind. Schülerinnen und Schüler der vierten bis sechsten Primarklasse werden hier unterrichtet. 22 Kinder aus elf Nationen, unter ihnen auch die Tochter des Autors, bevölkerten in den drei Jahren bis zu den vergangenen Sommerferien das Klassenzimmer von Stillhard. Der geographische Bogen ihrer Herkunft spannte sich von Südwesteuropa bis in den mittleren Osten, er weckte Bilder von märchenhaften Landschaften, von fremden Sprachmelodien, von Ländern, die, anders als die Schweiz, schon seit vielen Jahrhunderten ein Schmelztiegel der Nationen sind, von Armut, wirtschaftlicher Not, von Bürgerkrieg und religiös motiviertem Wahn. Würden diese von den Zeitläufen zusammen gewürfelte Schar zusammenfinden bis zum Übertritt in Sekundar- oder Realschule, zur Gemeinschaft werden, wie es sich ihr Lehrer vorgenommen hatte?

Gerechtigkeit versus Ehrichkeit?

Er habe den Kindern seine Enttäuschung nicht gezeigt, als ihn der anonyme Protestbrief erreichte, erinnert sich Stillhard. Aber es sei ihm bewusst gewesen, dass es in diesem Moment um fundamentale Werte ging, die es unbedingt zu bewahren galt. Tatsächlich, möchte man einwenden, ist Gerechtigkeit im Klassenzimmer ja auch ein hohes Gut, das eingefordert gehört. Durchaus, sagt Stillhard, aber noch wichtiger seien ihm Offenheit und Dialog. Als er den auf eine Folie kopierten Brief am Hellraumprojektor seiner Klasse präsentierte, habe er es aus den Gesichtern ablesen können, wer die Urheber waren. Doch er habe geschwiegen, habe einfach gefragt, wer sich dazu äussern möge, und als sich nach einigem Zögern zwei Mädchen dazu bekannt hätten, habe er die ganze Klasse gebeten, das Thema in seiner Abwesenheit zu diskutieren und Vorschläge zur Verbesserung zu machen. Das Problem: Wer dem Lehrer meldet, wenn er in einer Klausur einen Fehler übersehen hat, kriegt keinen weiteren Abzug, sondern ein Dankeschön für die Ehrlichkeit. Die Fehlerkorrektur für den Schüler, die etwa darin besteht, die richtige Lösung dreimal aufzuschreiben, steht aber dennoch an. Er sei bereit gewesen, sein System über den Haufen zu werden, wenn es die Klasse gewünscht hätte, sagt Stillhard. Denn im Kern geht es um eine ethische Frage: Welcher Wert soll in dieser Situation höher gewichtet werden, jener der Gerechtigkeit oder jener der Ehrlichkeit? Und natürlich: Hat der Lehrer recht? Die Schülerinnenversammlung einigte sich nach längerer Diskussion in Abwesenheit des Lehrers, an seinem System festzuhalten. Es war ein Akt demokratischer Reife in einer Gemeinschaft 12- bis 14-jähriger Kinder, die sich ebenso leidenschaftlich stritten wie sich versöhnten. Der runde Tisch, den Stillhard dazu eingerichtet hatte, war oft gut besetzt, gerade von den Mädchen in der Klasse. Die Konflikte drehten sich um die grossen emotionalen Themen: Freundschaft, die mal erwidert, mal zurückgewiesen wurde, Eifersucht, Macht in der Gruppe, wer mit wem auf dem Pausenplatz seine Runden drehen darf oder einfach die Einsicht, dass in der Welt der Gefühle die Dinge manchmal sind, wie sie sind. Kein Streitthema waren Herkunft, Religion oder Hautfarbe, nicht nur, weil jegliche Diskriminierung im Schulhaus verpönt ist und René Stillhard sagt: „Mich interessieren die Persönlichkeit des Kindes, seine Stärken und Schwächen, damit ich es bestmöglich fördern kann. Der familiäre und kulturelle Hintergrund ist interessant für meine Einschätzung, im Klassenzimmer ist er aber kein Thema. Da sind sie alle gleich. Und den Kindern selbst ist es sowieso egal“. Schöne Worte. Aber die Berichte der Tochter, die mit grosser Leidenschaft an den Auseinandersetzungen im Schulzimmer beteiligt war, sich mal zurückgesetzt fühlte, mal von einer neu gewonnenen Freundin schwärmte, nur um dann wieder enttäuscht zu sein von deren Abwendung, die sich ebenso wenig für die Herkunft ihrer Mitschülerinnen interessierte wie jene selbst, waren eine einzige Bestätigung: Hier sind die Kinder alle gleich. Dass sie in den drei Jahren nicht nur gehörig Schulstoff, sondern auch Respekt und Wertschätzung gelernt haben, im sicheren Schoss einer Schule, deren Lehrkräfte wissen, worauf es ankommt im Leben: den Menschen. Der letzte Schultag war emotional gewesen, ein Abschied unter Tränen. Die Wege der Kinder und ihres Lehrers trennten sich. Der Leistungsgraben, der sich jetzt öffnete, war in den meisten Fällen auch mit der besten Förderung nicht zuzuschütten gewesen. Die grosse Mehrheit der Kinder aus Familien der ersten Ausländergeneration besucht jetzt die Realschule, während die meisten aus der zweiten Ausländergeneration oder mit deutscher Muttersprache den Übertritt in die Sekundarschule schafften. Dieser Graben ist auch ein sozialer. Doch das ist eine andere Geschichte.